Begleittext zur Ausstellung „Figural“,
zs art Galerie Wien, 4.11.2020 – 12.2.2021
Emil Toman (1923 – 2007)
Interessant, dass Emil Toman in einer Ausstellung über figurale Kunst gezeigt wird. Interessant deswegen, weil Tomans künstlerische Heimat in sämtlichen kunsthistorischen/-kritischen Texten im Informel, „der absoluten Gegenstandslosigkeit“, verortet und in einem Zug mit Namen wie Mark Rothko oder Wolfgang Hollegha genannt wird.
Tatsächlich bewegt sich der Großteil von Tomans Schaffen im ungegenständlichen Bereich. Toman war zutiefst von der Verbundenheit alles Seienden überzeugt, vom Individuum als untrennbar verbundenem Teil einer allumfassenden Ganzheit, die in ständiger Wechselwirkung, Veränderung, Entwicklung sich befindet. Die Starrheit des „abgemalten“ Gegenstandes schien ihm nicht der dynamischen Realität der Wahrnehmung und des Seins an sich zu entsprechen, vielmehr machte er sich auf die Suche nach Möglichkeiten, sich in seinem bildnerischen Schaffen einem allumfassenden Absoluten anzunähern. Seine Arbeit war stets geprägt von tiefer Spiritualität, großer Naturverbundenheit und dem Versuch, seine Welt- (bzw. All-)Sicht für den Betrachter optisch erfahrbar zu machen.
Zugleich waren Tomans unbändige Freiheitsliebe und Neugier, der Wille zur steten Veränderung, typische Merkmale seiner Persönlichkeit. Dogmen passten nicht in sein dafür viel zu weit gefasstes Weltbild, und so unterwarf sich Toman auch nicht dem Dogma der Gegenstandslosigkeit. In seiner ganzheitlichen Sicht konnten gegenständliche Form (in ihrer momentanen Figuration/Ausformung (???) und inspirativ empfangene Form gleichwertig nebeneinander stehen. In beiden Fällen versuchte Toman, durch Reduktion und Konzentration auf eine möglichst absolute Bildformel zu kommen, die Essenz herauszuarbeiten.
Seine Frauen- und Männerfiguren lassen dieses Essenzielle, Absolute spüren. Die Zeichnungen sind keine Porträts bestimmter Personen, sondern Ausdruck des Weiblichen und Männlichen an sich. Formal reduziert auf Umrisslinien, tragen sie etwas Allgemeingültiges, Prototypisches in sich. Zugleich vermitteln sie den Eindruck, vor Lebensfreude, Freiheit, Selbstvertrauen, Fruchtbarkeit und Vitalität nur so zu strotzen. In ihrer Üppigkeit und erdigen Kraft erinnern sie an archetypische Figuren wie die Venus von Willendorf. Toman erweckt sie aus ihrer Versteinerung und lässt sie beschwingt davonspringen.
Wilhelm Drach (*1952)
Durch den Ausstellungstitel ist für jede/n Besucher*in von vornherein klar, dass es auch in Wilhelm Drachs Bildern Figuren zu entdecken geben muss, die sich durch die figurale Hintergrundinformation auch schnell preisgeben. Raumgreifend und farbintensiv nehmen sie sich ihren Platz auf der Bildfläche, sitzen sie nackt und selbstbewusst vor uns. Ohne den Ausstellungstitel könnte man viele der Bilder jedoch ohne weiteres für ungegenständliche Kunst halten, expressiv-tachistische Gefühlsausdrücke ohne Objekt- (oder in diesem Fall eher Subjekt-)Bezug. Erst ein Hinweis stellt klar, dass die figurale Ahnung, die sich beim längeren Betrachten vielleicht einstellt, Tatsache ist. Auf der Spurensuche nach menschlichen Zügen entschlüsseln sich nach und nach viele Bildelemente als reduzierte Körper-Kürzel: der charakteristische Schatten unter der Brust, die markante Linie des Ober- oder Unterschenkels, die zum Strich abstrahierte Vagina, die abgewinkelten Arme. Bald kann man gar nicht mehr anders, als nur noch die Figur zu sehen, die man auf den ersten Blick gar nicht wahrgenommen hatte.
Genau dieser Grenzgang zwischen Abstraktion und Figuration ist es, der Drach fasziniert: „In meiner Arbeit versuche ich, meine eigenen bisherigen Grenzen auszuloten oder zu verschieben. Mein Antrieb ist gewissermaßen meine Neugierde. Wie weit kann ich eine Figur (…) auseinandernehmen, neu bauen und es ist noch immer eine Figur (…)?“
Bei aller Abstraktion bleibt Drach immer ein gegenständlicher Maler: Sein erster und wichtigster Bezugspunkt ist immer die optisch wahrnehmbare Realität, die er in ihre Einzelteile zerlegt und analysiert. Das Gleiche gilt übrigens auch für die Farben: Drach ist kein „Fauve“, der Farben vollkommen losgelöst von den realen Gegebenheiten einsetzt. Im Gegenteil: Haut schimmert bei genauer Betrachtung in allen erdenklichen Farben – je nach Körperstelle, Lichteinfall und Umgebung. Schon die alten Meister bauten das Inkarnat daher aus vielen unterschiedlichen Farbschichten auf, um dieses Farbspektrum möglichst wirklichkeitsgetreu wiederzugeben. Genau das Gleiche macht auch Wilhelm Drach, überträgt die malerische Technik jedoch in seine eigene, zeitgemäße Bildsprache. Drach spaltet das Farbspektrum der Haut in seine Nuancen und Schattierungen auf und führt dem Betrachter/der Betrachterin die schier unendliche Polychromie der Haut vor Augen. Wir sind eben nicht nur schwarz oder weiß, sondern zugleich auch alle Facetten dazwischen.
Robert Staudinger
„Die Figur“: auch abseits der bildenden Kunst ein Wort, das uns im Alltag oft begegnet. Jeder Mensch kann eine Figur sein, machen oder abgeben, auf jeden Fall aber hat man eine Figur, am liebsten natürlich eine „gute“. Auch wenn sich die Vorstellungen darüber durch die Jahrhunderte verändert haben, bemühte man sich stets, bestimmten körperlichen Idealen zu entsprechen. Seit Anbeginn der Menschheit stellt der Körper ein Grenzgebiet zwischen Natur und Kultur dar, das gestaltet, manipuliert und geformt wird – sei es, indem man Körperteile in die gewünschte Form presst (z.B. Korsett) oder durch gezieltes Muskeltraining, Diäten und/oder Schönheitsoperationen. Wie passend, dass die Figur etymologisch gesehen ihren Ursprung im lateinischen fingere hat, was so viel bedeutet wie ‘bilden, formen, ersinnen, erdichten’.
In Robert Staudingers Serie „Zur Figur“ stehen dieses Ersinnen und Formen der Figur, aber auch die Grenzen ihrer ästhetischen „Optimierung“ im Vordergrund. Für seine Fotografien hat er Modelle klassischen Skulpturen gleich auf Sockeln positioniert – Reflexionen idealisierter Körperdarstellungen der Kunstgeschichte. Doch die reine Inszenierung der Pose ist Staudinger nicht genug: das gezielte Falten und Vernähen der auf Transparentpapier ausgedruckten „objektiven“ Fotos ist sein Weg, mit der Figur ähnlich frei bzw. abstrahierend umzugehen, wie das für Maler*innen seit dem Kubismus möglich ist. Körperregionen werden weggefaltet, verkürzt, verschoben und neu zusammengesetzt oder ganz zum Verschwinden gebracht. Es entstehen ganz neue, rein ästhetische Figuren – Körper, die ihrer biologischen Funktionalität enthoben nur noch Form an sich sind. Staudinger treibt die übliche Manipulation vom natürlichen Körper zur kulturell geprägten Figur einen Schritt weiter zur „Kunstfigur“. Seine Fotoobjekte reflektieren die „Figur“ sowohl in ihrer kunsthistorischen, als auch in ihrer ästhetischen Dimension: Grenzen werden ausgelotet und überschritten, die Wahrnehmung des Körpers als „Designobjekt“ auf eine surreale Spitze getrieben. Wie Modelle für unrealisierbare Körperbauten harren sie in den Schaukästen ihres Schicksals – verstörend, aber schön.