Marie-France Goerens: Die Poesie des rechten Winkels

Installation bei der parallel Vienna 2020
Herbst 2020

Der Akt des zu Fuß Gehens stellt für Marie-France Goerens einen performativen und inspirativen Prozess gleichermaßen dar. Indem ich mich durch den (öffentlichen oder privaten) Raum bewege, manifestiere ich mich körperlich in ihm. Ich setze meinen Fuß auf den Boden, trete in Kontakt, lege Wege zurück, ziehe meine Linien, hinterlasse Spuren, interagiere. Ich füge mich der Welt zu und setze mich ihr aus, trete in einen Dialog. Marie-France Goerens erklärt das Gehen – das Setzen der einzelnen Schritte und die Wahl des Weges – zu einem Akt des persönlichen Ausdrucks, der Freiheit, ja, der Selbstermächtigung.

 

„Gehen ist eine Fortbewegungsart, bei der es im Gegensatz zum Laufen keine Flugphase gibt“ definiert Wikipedia. Gehen erdet also, der Körper bleibt stets im Kontakt mit dem Boden, doch der Geist kann dabei fliegen.
Marie-France Goerens‘ Herangehensweise erinnert an John Cage, der jedes Geräusch zu Musik erklärte. Seine Wohnung an der stark befahrenen New Yorker 6th avenue befand er für die beste seines Lebens – er brauche jetzt kein Radio mehr, erklärte Cage seinen Besuchern: „Ich muss nur das Fenster aufmachen.“ Ganz in diesem Sinne wünschte er den Menschen „Happy new ears“, um jederzeit in den Genuss eines Hörerlebnisses zu kommen.

Auch Marie-France Goerens‘ Einstellung lädt ein, das Potenzial des Gehens auszuschöpfen, jederzeit und überall einen kreativen Akt vollbringen zu können, sich mit einer ephemeren Performance in die Welt einzubringen, selbst wenn sie nur von einem selbst bewusst wahrgenommen wird.

Neben den performativen Qualitäten ist das Gehen für Marie-France Goerens zugleich inspirativer Prozess für künstlerische Produkte. Goerens‘ Werke beziehen so auf subtile Weise stets ihre körperliche Erfahrung mit ein, sind Abbilder von ihrem persönlich begangenen Dialog mit der Umwelt.

 

Für die Parallel Vienna hat Marie-France Goerens eigens eine Installation erarbeitet, die intensiv auf den Veranstaltungsort Bezug nimmt. Dafür hat sie sich durch das Gewerbehaus bewegt, sozusagen eine „Begehung“ gemacht, und das Gebäude auf sich wirken lassen. Linien und Winkel waren es, die dabei besonders in Erscheinung getreten sind: Die L-förmig rechtwinkeligen Motive des Teppichdesigns. Die schiefen Winkel vieler Räume, bedingt durch den geknickten Grundriss des Hauses. Sie weichen vom „Normalen“ ab, nehmen es sich heraus, anders zu sein, als wir es gewohnt sind, spitzer oder stumpfer, aber jedenfalls nicht recht. Genauso, wie Marie-France Goerens es sich herausnimmt, ihren Fuß manchmal anders als gewohnt auf den Boden zu setzen.

Diesen „mutigen“ Winkeln hat Goerens ein Denkmal gesetzt, sie hat sie vermessen und in zwei Meter hohe Stelen aus Lochblech übertragen, die zu Gruppen arrangiert ihr Abweichen vom rechten Winkel zelebrieren. Das Teppichmuster kehrt in den zweidimensionalen Arbeiten wieder, in denen Marie-France Goerens mit der L-Form experimentiert und variiert. „Gewerbehaus in a nutshell“ könnte man sagen, oder – angelehnt an Le Corbusier – „die Poesie des (un)rechten Winkels“.