in: Gabriele Lucie Freudenreich: „Working on Art“, Prösitz 2020, S. 9-11
Seit jeher interessiert sich Gabriele Lucie Freudenreich in ihrem künstlerischen Schaffen für Menschen und ihre Geschichte(n) und für das Thema Arbeit. Oft verquicken sich die beiden Interessengebiete, denn natürlich sind es oft Menschen, die die Arbeit verrichten. Wie formt die Arbeit einen Menschen und in welcher Weise gestaltet auch er seine Arbeit? Wie wirken sich die täglichen Verrichtungen auf Körper, Geist und Lebenseinstellung aus?
Die Frage nach dem körperlichen Aspekt war beispielsweise Ausgangspunkt für Freudenreichs Installation Anpassungen (1997), für die sie arbeitende Hände in Latex goss. Das Ergebnis: Handschuhe in bestimmten Haltungen, die involvierte Werkzeuge und Prozesse erahnen lassen. Und Betrachter*innen, die diese leeren, gegossenen Handbewegungen wiederum nachahmen, sich in die anderen Hände hineinversetzen (ein Effekt, der durch die theoretische Möglichkeit verstärkt wird, sich diesen leeren Handschuh anzuziehen, sich die Hand, den Beruf, das Leben eines anderen überzustülpen). Die Künstlerin beschäftigte dabei die oben schon erwähnte Korrelation zwischen Arbeit und Körper: Welchen Einfluss hat es auf einen Körper, wenn er im Arbeitsprozess immer wieder die gleiche Bewegung wiederholen muss? Was geschieht mit der dazu notwendigen Muskulatur, mit den Synapsen, die im Gehirn dazu notwendig sind? Wie korrespondiert das, was das Außen tut mit dem, was sich im Inneren tut? Wie formt die Arbeit unser Leben und unseren Geist, und wie formen Leben und Geist die Arbeit?
Der Geist ist und bleibt ungreifbar, man kann ihn nicht in Latex gießen. Genau so wie die Begriffe „Kunst“ und „Arbeit“. Aber man kann durch reden, durch fragen und zuhören ein wenig davon „sichtbar“ machen, sich annähern, abformen, erfühlen. In Interviewreihen befragt Freudenreich seit gut 20 Jahren verschiedene Personengruppen über ihr Leben und Arbeiten. Die erste Interviewserie mit Künstler*innen begann 1997. Dann folgten Bäuerinnen aus der ehemaligen DDR (2005/2008), danach Stadtmenschen (2008) und – im vorliegenden Werk – wieder Künstlerinnen.
Auch Kunst ist Arbeit, Künstler*in sein ein Beruf. Dass das in unserer Gesellschaft nicht unbedingt immer so gesehen wird, können wohl viele Künstler*innen bezeugen, die durch ihren Beruf finanziell kaum ihren Alltag bestreiten können. Kunst machen wird oft mehr als abgehobenes Hobby zur Selbstverwirklichung betrachtet, denn als Arbeit, als Leistung, die nicht nur dem ausführenden Individuum, sondern auch der Gesellschaft dient und dementsprechend wertvoll ist und vergütet werden sollte. Der Großteil der Künstler*innen kommt gerade mal so über die Runden oder kann es sich nur leisten, „Nebenerwerbskünstler*in“ zu sein. Diese Problematik ist zwar nicht der eigentliche Kern von Freudenreichs Interesse, wird von ihr aber bewusst und vielleicht auch ein wenig provokativ ins Spiel gebracht, indem sie bei ihren Befragungen auf Schlagworte zurückgreift, die normalerweise nicht mit Kunstschaffen, sondern mit Wirtschaft(lichkeit) in Zusammenhang gebracht werden. Freudenreich befragt zehn Künstlerinnen in Bezug auf ihr Arbeiten und ihre Produkte nach Faktoren wie Effizienz, Produktion und Leistung und „zwingt“ sie dadurch, ihr eigenes Schaffen aus einer ungewohnten Perspektive zu betrachten.
Das Produkt von Gabriele Lucie Freudenreichs aktueller Arbeit ist ein (auch im wahrsten Sinne des Wortes) vielseitiges. So gibt es als materielles Endprodukt ein Buch, das haptisch und optisch erfahrbar ist. Man erhält beim Lesen immaterielle Werte, wie Informationen über Kunst und künstlerische Schaffens- und Denkprozesse generell. Des Weiteren kann man gezielt etwas über die einzelnen interviewten Künstlerinnen erfahren, über ihre persönlichen gedanklichen Hintergründe, ihre Einstellungen zu Kunst und die Ziele ihrer Arbeit.
In erster Linie ist Gabriele Lucie Freudenreichs Ziel aber, ein möglichst umfassendes und zugleich detailliertes Bild von „Kunst als Arbeit“ zu zeichnen. Mit Hilfe ihrer Fragen und der Antworten der Künstlerinnen unternimmt sie den Versuch, das Arbeiten an Kunst (Kunst schaffen) möglichst umfassend und zugleich detailreich abzubilden und aus vielen (nämlich genau zehn) Perspektiven zu erfassen. Wie eine Bildhauerin modelliert sie an einer „Begriffsskulptur“, nur dass ihre Werkzeuge nicht Hammer und Meißel, sondern Fragen sind. Sie steckt ab, fragt nach, arbeitet heraus, modelliert, verfeinert, feilt, schleift. Es ist der Versuch, etwas, über das nie alles gesagt werden kann, das nie eine endgültige, abgeschlossene Form haben wird, zumindest für einen Moment zu erfassen, bevor es wieder entwischt und sich verändert. Man könnte das immaterielle Produkt von Freudenreichs Arbeit als ein multiperspektivisches, intrasubjektives Gedankenkonstrukt bezeichnen, als eine immaterielle, abstrakte Skulptur des „Kunstschaffens“, die ständig ihre Form wechselt, erweitert, verändert und sich im Geist jedes einzelnen Lesers individuell materialisiert, nur um sich im nächsten Satz wieder aufzulösen und in anderer Form zu rematerialisieren.