Johann Julian Taupe: Alles in Allem...

Buchbeitrag

Titel: „Alles in Allem“

in: Clara Kaufmann (Hg.), Johann Julian Taupe. Die Farben von Weiß, Klagenfurt 2014, S. 9-24.

Die Gemälde von Johann Julian Taupe sind nicht zu durchschauen. (…) Trotzdem kann man sich an ihre stringente Beliebigkeit gewöhnen, d.h. man lernt, sich mit ihnen abzufinden (…).“ [1]

„Taupes Bilder verbreiten zunächst einen lautlosen Schrecken, weil man sich an nichts erinnert.“ [2]

Es ist für mich immer wieder erstaunlich, dass es in unserem von Bildern und Informationen überhäuften Alltag dennoch möglich ist, auf Bilder zu treffen, die eine Wohltat für Augen und Seele sind. Taupes Malerei lässt den Betrachter „Frei“-Räume erschließen, sie engen ihn nicht durch Symbole und Inhalte ein, die zu deuten er genötigt wird.“ [3]

Viel gegensätzlicher können zwei Aussagen zum Schaffen ein und desselben Künstlers wohl kaum sein. Und doch kommentieren beide Zitate die gleichen Arbeiten des Kärntner Malers Johann Julian Taupe, noch dazu in einem gemeinsamen Buch vereint.

Ich habe die beiden Zitate an den Anfang meines Textes gestellt, weil sie exemplarisch sind für Taupes künstlerisches Schaffen und dessen Rezeption, bei denen Widersprüche und Brüche ständige Begleiter sind.

 

In Taupes Bildwelt drückt sich dies in mehrfacher Hinsicht aus, so zum Beispiel in der eigentlich so klaren, intensiven Farbigkeit, die aber doch immer wieder durch Abtönungen oder schlierende Abmischungen gebrochen wird, in der Tendenz zu einer Aufteilung der Bildfläche in geometrische Formen, die jedoch nie mit mathematischer Genauigkeit verfolgt wird, in der eigentlich so eindeutig abstrakten Bildsprache, in der dann aber doch immer wieder konkrete Zitate ganz greifbar scheinen, und auch in Taupes künstlerischer Entwicklung, die über weite Strecken so klar vorgezeichnet scheint, dann aber doch immer wieder abrupt einen ganz anderen Weg nimmt.

Für mich persönlich ist es gerade dieses Unerwartete, „Unperfekte“ und nie ganz Eindeutige, das mich in Taupes Bildern heimisch fühlen lässt, weil mir scheint, dass diese Bilder auch von ihrem Betrachter nicht erwarten, perfekt, stets ausgeglichen oder immer gleichförmig zu sein und ihm somit ein gewisses Gefühl von Freiheit und Angenommen-Sein vermitteln können.

 

In der Literatur wird Taupes Œuvre, wie erwähnt, durchaus sehr unterschiedlich eingeschätzt und interpretiert, jedoch kommen alle Autoren zum gleichen Schluss – nämlich, dass Widerspruch, Bruch und Diskontinuität die einzig wirklich kontinuierlichen Faktoren in Taupes Schaffen sind.

Ich habe mich gefragt, wie das kommt und ob es nicht auch einen Interpretationsansatz geben kann, aus dem heraus sich diese scheinbar nicht mit der „Logik“ erfassbaren Faktoren erschließen könnten.

Beim Versuch der Beantwortung dieser Frage bin ich für mich zu dem Schluss gekommen, dass Johann Julian Taupes Œuvre allumfassend ist. Damit soll nicht auf den Künstler als Genie im Sinne des 19. Jahrhunderts angespielt werden, sondern genau das ausgedrückt werden, was das Adjektiv „allumfassend“ bedeutet. Taupes Bilder umfassen eben nicht nur die ganze Welt, sondern schlicht und einfach „alles“. Und natürlich gibt es in dieser Gesamtheit – unternimmt man den Versuch, sie in ihre unzählbaren, mannigfaltigen Einzelheiten aufzugliedern – auch Widersprüche und Brüche. Daher scheint auch Taupes Werk oft widersprüchlich, vermisst so mancher Betrachter eine gewisse Logik oder Kontinuität, die einen Leitfaden, eine Hilfestellung bei der Betrachtung seiner Bilder darstellen könnte. Blickt man auf seine Bilder jedoch unter dem Aspekt, dass in ihnen ALLES enthalten ist (oder sein kann), erklären sich mit einem Schlag auch die Widersprüche oder Konflikte. Taupe vereint in seinem Werk die größten Gegensätze miteinander, schafft Bildwelten, in denen alles zugleich vorhanden ist: Individuelles und Allgemeines, Abstraktes und Konkretes, Sichtbares und Unsichtbares, Fläche und Raum, Wahrheit und Irrtum, Mikrokosmos und Makrokosmos, Gravitation und Schwerelosigkeit, Gedachtes und Gesagtes, Gehörtes und Gesehenes, Kohäsion und Repulsion, Gedankenstrich und Rufzeichen, Leere und Horror vacui, Entstehung und Auflösung, Regelwerk und Freiheit, Johann und Julia(n).

 

Es handelt sich dabei jedoch nicht um intellektuelle Gedankenkonstrukte, von langer Hand geplant und für den Außenstehenden nur mit dem nötigen philosophischen Hintergrundwissen durchschaubar, sondern um den unmittelbarsten Ausdruck des Künstlers selbst. Seine Bilder spiegeln seine eigene Wahrnehmung wider, sind zugleich intimste Innenschau und umfassende Außenschau. Taupe malt nicht, weil er will, sondern weil er muss. Malen bedeutet für ihn Psychohygiene. Man könnte sein Œuvre als ein abstraktes Tagebuch sehen, in dem die großen Fragen des Lebens genau so viel Platz haben, wie der „banale“ Alltag.  Der Malprozess läuft dabei mehr über die unbewusste, inspirative, als über die intellektuelle Ebene, wie Taupe selbst beschreibt:

 

Manchmal habe ich das Gefühl, ich habe über die Leinwand nur bis zum ersten Pinselstrich die Macht, dann beginnt sie selbst zu leben und schreibt mir die weiteren Schritte vor. Nach und nach ergibt sich ein Bild, das natürlich in mir gewachsen ist, das aber von der Leinwand wie von einem Spiegel reflektiert wird.[4]

 

Wie kommt es aber, dass diese Bilder, die höchst individuelle Äußerung des Künstlers selbst sind, zugleich für jeden Betrachter funktionieren können, ja von mir gar als „allumfassend“ bezeichnet werden?

 

Einen Schlüssel zu dieser Frage könnte ein Zitat von Hans Bischoffshausen, Taupes Mentor, darstellen: „Hier sei festgehalten, dass Kunst nicht, wie viele Ambitionierte es gerne haben möchten, ein anderes, höheres, abstraktes Wesen mit eigenen unerforschten Entwicklungsgesetzen ist, sondern eine vollständig dem Menschen und seinem Dasein zugehörige, psychologisch definierbare Aktivität von Einzelnen in der Gesellschaft ist, und […] als eine (kollektive) Leistung zu begreifen ist, die eher einer Nötigung als einem Talent, eher einer [sic! ] seelischen Hygiene als der [sic! ] Ebenbildlichkeit mit Gott darstellt.[5]

 

Kunst ist also laut Bischoffshausen individueller Ausdruck, seelische Hygiene und kollektive Leistung zugleich – eine Betrachtungsweise, die auf Taupes Bilder vollständig anwendbar ist.

 

Dies liegt an der künstlerischen Ausdrucksweise von Taupe, die dem Betrachter keinerlei Interpretation aufdrängt, keinen Titel vorgibt und deren Sprache nie so konkret wird, dass die Bilder tatsächlich wie ein intimes Tagebuch gelesen werden können. Es ist kein bewusstes Aufarbeiten des Unbewussten, keine intellektuelle Betrachtung der eigenen Wahrnehmung, sondern unmittelbarer malerischer Ausdruck bewusster und unbewusster Gedächtnisinhalte.

Ich möchte die Farbflächen (Abb. 1 od. 2) in Taupes Bildern als Variablen bezeichnen. Es sind Farbflächen, die meist scharf voneinander abgegrenzt sind, manchmal aber auch verschwommene Konturen aufweisen, sich übereinander schieben, aneinanderstoßen, oft auch weit voneinander entfernt liegen. Diese Variablen können mit mannigfaltigen Inhalten gefüllt werden und Schemata, Landkarten für die unterschiedlichsten Beziehungskonstrukte darstellen. Die Möglichkeiten, diese Platzhalter mit Inhalt aufzuladen sind dabei grenzenlos: Es funktioniert mit Naturphänomenen genau so wie mit Emotionen, Landschaften, Menschen, Galaxien, Meinungen, Mikroorganismen etc. Sie können genauso für intimste Gedanken stehen, wie für politische Verhältnisse oder geographische Situationen – sind also allumfassend.

 

Denn genau so funktioniert ja eben „alles“: Alles steht miteinander in Beziehung, ist eine „Gleichgewichtigkeit zwischen (…) antinomischen Impulsen[6], ein Spannungsverhältnis zwischen verschiedenen Kräften, das einmal mehr in eine, dann wieder in die andere Richtung tendiert, in dem aber grundsätzlich alles vorhanden ist. „Eine solche Gleichgewichtigkeit bedeutet indessen nicht etwas Statisches, wie man meinen könnte, sondern sie ist voll ungemeiner innerer Dynamik, weil sie nie etwas Erreichtes, sondern etwas immer wieder Herzustellendes ist.[7]

 

Alles steht miteinander in Beziehung, das ganz Kleine spiegelt sich im ganz Großen wider (man vergleiche beispielsweise den Aufbau eines Atoms mit dem Aufbau einer Galaxie, oder die Parallelen von zwischenmenschliche Beziehungen zu Beziehungen von Staaten zueinander). So ist es auch mit Taupes Œuvre, in dem „jedes Bild Teil eines Ganzen, ein eigenständiges Fragment in einem offenen, unendlich weiten künstlerischen Malraum[8] ist – in diesem Sinne könnte man Taupes Bilder auch als Holons[9] betrachten. Jedes Bild steht für sich selbst, ist in sich geschlossen und doch unendlich offen, ist selbst Ganzes und zugleich Teil eines größeren Ganzen, nämlich von Taupes Landkarte des Lebens, die er beständig erweitert.

 

Taupes Bilder bestehen jedoch nicht nur aus den oben beschriebenen, meist relativ klar „abgesteckten“ Farbflächen. Genau so wie diese sind plötzlich erscheinende unklare  Flecken (Abb. 3 od. 4) ganz typische Bestandteile von Taupes Bildern. Es sind oft ganz kleine, aber durchaus auch größere Bereiche, in denen sich Farben vermischen und Formen ausbrechen. Diese Bereiche könnte man als die halb verdrängten oder vergessenen Bewusstseinsinhalte deuten, als plötzliche Erinnerungen, die auftauchen, ohne dass man ihrer wirklich gewahr wird. Wie ein bestimmter Geruch, der uns im Alltag unvermittelt an die Kindheit erinnert, oder der Straßenlärm, der uns zwar umgibt, den wir aber zumeist ausblenden. Es sind die Bereiche der Innen- oder Außenwelt, derer man sich noch nicht oder nicht mehr voll bewusst ist.

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Praxis Taupes, ausgediente Paletten, die zum Mischen der Farben nicht mehr geeignet sind, als Basis für neue Gemälde zu verwenden. Die eingetrockneten Farbmischungen und Strukturierungen dieser „ready made“-Grundierungen dienen dem Künstler dabei als Inspiration und beeinflussen das Endprodukt, „indem er etwa einzelne reliefartige Erhebungen des Grunds nicht übermalt, sie farblich ausspart, in der ursprünglichen Gestalt bestehen lässt und eventuell (…) betont.“[10] Es sind also Spuren der Vergangenheit und des Unbewussten, mitunter banale Spuren oder Zufälle ohne große Bedeutung, denen im Schaffen Taupes ein breiter Platz eingeräumt wird. Bezeichnend auch, dass der Maler das Grundieren der Leinwand (wenn er – wie meistens – nicht alte Malerpaletten als Bildgrund verwendet) als „die Ursuppe machen“ [11] bezeichnet.

 

Ein weiterer Bestandteil von Taupes Bildern sind hin und wieder vorkommende konkrete Zitate aus der Dingwelt (Abb.5). Es scheint, als bräche der Maler mit ihnen die Spielregeln der abstrakten Malerei, was beim Betrachter zu Irritation führen kann. Jedoch sind diese Spielregeln der Abstraktion nicht diejenigen, die für Taupes Schaffen gelten. In Taupes Universum ist alles möglich, weil in ihm alles vorhanden ist. Und wenn darin plötzlich ein Vulkan auftaucht, dann ist da eben ein Vulkan.

 

Auch wenn der Maler diese Möglichkeiten nicht alle immer bewusst mitdenkt, so geschieht dies zumindest unbewusst. Seine Bilder schließen nichts aus und drängen nichts auf. Es gibt für sie keine falschen, nur richtige Interpretationen. Sie mit komplexen, philosophischen oder psychologischen Inhalten aufzuladen funktioniert genau so gut, wie sie als reine Lust an der Farbe, als Mathematik oder als Poesie zu interpretieren. Nur eines ist mit Taupes Bildern nicht möglich: sie ideologisch zu vereinnahmen oder auf einen bestimmten, unveränderlichen Inhalt festzulegen. Die Werke von Johann Julian Taupe laden den Betrachter ein, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen und genau das mag auch der Grund dafür sein, warum sie manch einem eher „unheimlich“ erscheinen, während ein anderer sie als „angenehm“ empfindet. Der Betrachter wird auf sich selbst zurückgeworfen und empfindet genau das, je nach (Tages-)Verfassung, eher als angenehm oder bedrohlich – oder vielleicht auch als beides zugleich.

 

2011 hatte Johann Julian Taupe durch ein Paris-Stipendium des Landes Kärnten die Möglichkeit, sechs Monate in der französischen Hauptstadt zu leben und zu arbeiten. Neben den dort gemalten Bildern entstand dabei auch eine Art fotografisches Tagebuch, das anschließend als „Pariser Ziegel“ (Abb.6) veröffentlicht wurde. „Le livre présent est un témoignage de la perception de l’artiste de Paris[12] (– dieses Buch ist ein Zeugnis der Wahrnehmung des Künstlers von Paris), beschreibt Gabriele Eder in ihrem Vorwort den Pariser Ziegel. Durch dieses „Reisetagebuch“, das sich ähnlich einem Fotoalbum präsentiert, kann man eine Vorstellung davon erlangen, wie Johann Julian Taupe nicht nur Paris, sondern generell seine Umwelt wahrnimmt – wie er offenen Auges durch das Leben geht, Eindrücke sammelt, seine Umwelt inhaliert. Sein Pariser „Carnet de voyage“ ist ein Kaleidoskop von scheinbar wahllosen Eindrücken, die gleichwertig nebeneinander stehen: Métro-Stationen, Schaufenster, die Seinebrücken und -ufer, Rollläden, der Louvre, gestapelte Bananenkartons und Getränkekisten, Kinder beim Fahrradfahren, Details der Métro-Garnitur, der Eiffelturm, Stoff-Meterware, Plakatwände, Selbstporträts, Geschäftsschilder, eigene und andere Kunstwerke, Häuserfassaden, Austern, Schweinsköpfe, Hauseingänge, Stiegenaufgänge, Spiegelungen, Durchblicke, Architekturdetails, Menschenansammlungen, Taubenansammlungen, Müllansammlungen…

 

Der Pariser Ziegel gibt Einblick in die Offenheit Taupes für (nicht nur) optische Eindrücke, wirkt wie ein ebenfalls allumfassendes konkretes Äquivalent zu den abstrakten Malereien. Durch die unbändige Fülle jedoch, die keine Grenzen zu kennen und keine Auswahl zu treffen scheint, verschwimmen die Grenzen zwischen konkret und abstrakt, erscheint der Pariser Ziegel, trotz der konkreten Sprache der Fotografien, in seiner Gesamtheit als abstraktes Werk, das vom Betrachter das Gleiche fordert wie die Malereien.[13] So kann die Fülle sowohl als unangenehme Reizüberflutung als auch Sinnbild für die Allgegenwart von Schönheit empfunden werden. Man kann die Fotografien von Alltagssituationen als Ärgernis empfinden, da an ihnen nichts besonders ist – oder eben das Besondere im Alltäglichen entdecken. Der Endeffekt ist der Gleiche wie bei den Malereien: Der Betrachter kann oder muss sich selbst einen Reim darauf machen und sich mit sich selbst und der eigenen Wahrnehmung auseinandersetzen.

In seiner ganzen Mannigfaltigkeit stellt der Pariser Ziegel mit seinen über 500 Fotografien doch nur einen winzig kleinen Ausschnitt von Taupes Leben, Zeit und Umwelt dar, ist er „another brick in the wall“, der uns den Reichtum von Johann Julian Taupes Welt genauso wie unserer eigenen vor Augen führen kann.

 

Taupes Pariser Erfahrungen mündeten jedoch nicht nur in das 575 Seiten starke Fotobuch, sondern auch in eine Serie von Malereien, denen handgeschöpfte Ziegel als Malgrund dienten. So baute er, zurück in Österreich, an seiner – um die französische Erfahrung reicheren – Bildwelt weiter und ergänzte die konkreten Fotos um abstrakte Malereien – oder vielleicht doch umgekehrt?

Man könnte Taupes Bildwelt also als abstraktes Paralleluniversum individueller und kollektiver Wahrnehmungen und Gedächtnisinhalte betrachten. Ein Universum, das genau so Entwicklungen und Veränderungen unterliegt, wie das „reale“ Universum. Es ist eine bildnerische Umsetzung der „echten“ (Innen- und Außen-)Welt von Johann Julian Taupe. Gerade die damit einhergehende Vereinfachung (Abstraktion) ist es jedoch, die es jedem Betrachter ermöglicht, diese allumfassende bildnerische Landkarte mit jeweils individuellen Inhalten zu füllen, ohne dass dafür Taupes Persönlichkeit aus den Werken negiert werden müsste.

Johann Julian Taupes künstlerische Entwicklung seit 1980 lässt sich unter dem Aspekt der „Entstehung eines Universums“ oder eher dessen Entdeckung und Erkundung betrachten.

 

So entstanden Anfang der 1980er Jahre die von Taupe so genannten „Raketen“ (Abb.7), längliche, nach oben hin zu einer Spitze sich verjüngende, bemalte Leinwandstücke an der Grenze zur Skulptur. Wie Raketen, die losgeschickt werden, um das Unbekannte (oder das Unbewusste?) zu erkunden, um sich den Weg zum eigenen malerischen Ausdruck zu bahnen, abseits der teils ausgetretenen Pfade großer Vorbilder. Man könnte sie auch als „Geistesblitze“ bezeichnen, Initialzündungen für die weitere künstlerische Entwicklung des Johann Julian Taupe.

Was folgt sind Kartonarbeiten, in denen einerseits das dreidimensionale, skulpturale Element, andererseits das malerische Moment weiter vertieft wird. Die Konvention von Bildrechteck und planer Fläche wird vorerst noch zugunsten eines Experimentierens mit Formen und Farben verlassen. Als würde der Künstler mit ihnen die späteren Elemente seiner Malereien erforschen, erinnern die Kartonobjekte an Modelle aus dem Biologie-, Physik- oder Chemieunterricht (Abb.8 und/oder 9). Letztere dienen der Veranschaulichung von quasi Unsichtbarem, dem Verständnis und dem Sich-vertraut-Machen mit einer Materie, die zwar immer und überall um (und in) uns vorhanden ist, jedoch trotzdem (aufgrund ihrer Kleinheit oder Größe) im Verborgenen liegt. Genau so könnte man Taupes „Karton-Modelle“ als künstlerisch-spielerische Erarbeitung und Erforschung der Elemente betrachten, die später sein bildnerisches Universum (wenn vielleicht auch als Mikroorganismen) bevölkern werden. Als würde man durch ein Mikroskop oder ein Fernrohr blicken, eröffnet sich ein reicher Fundus an Farben und Formen.

 

Nachdem dieser Entdeckungs- und Annäherungsprozess abgeschlossen ist, kehrt Taupe zur klassischen Leinwand zurück. Nun gilt es, das erarbeitete Bildvokabular auf der zweidimensionalen Fläche zu erproben, auch Gegenständliches und Ornamenthaftes ist dabei nicht verboten. Plakativ oder emblemartig stellt Taupe einzelne Formen in den Mittelpunkt.

Nachdem Mitte der 1980er Jahre auch dieser Prozess zu einem befriedigenden Ergebnis geführt hat, geht der Maler dazu über, die zuvor erarbeiteten Einzelelemente in den Bildern zu vereinen, die Leinwand mit ihnen zu bevölkern. „Dann werden die Zeichen gehäuft, Gleichartiges vervielfältigt, Verschiedenes zusammenkomponiert, aneinandergereiht, übereinander geschoben – die Fläche beginnt sich zu füllen (…). Jedes Ding ist für sich isoliert (…). Diese comic- oder zeichentrickartigen, kleinen Inselchen werden eventuell durch Spirallinien zusammengefasst (…)[14] beschreibt Christine Grundnig die Werkgruppe.

Es wirkt, als würde Taupe die zuvor im einzelnen erprobten Elemente nun in ihren gemeinsamen Bildraum entlassen, um sich das Ganze einmal aus der Ferne anzusehen. Die Bilder erinnern an grobe Skizzen eines Universums (Abb.10), wie Überblickszeichnungen für die detaillierte Landkarte, die in den darauffolgenden Jahren in vielen Hunderten Bildern entstehen und bis heute laufend erweitert wird.

Bevor es jedoch so weit ist, sollte es im Zuge des Wechsels von Acryl- zur Ölfarbe 1987 noch zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der Substanz (Abb.11) des Arbeitsmaterials Farbe kommen. Wie ist es strukturiert, dieses Universum, aus welchem Material ist es aufgebaut, wie sieht seine Oberfläche aus? In dieser Schaffensphase tritt die Farbigkeit zugunsten der Struktur in den Hintergrund. Pastos werden die Farben in hellen, pastelligen Tönen aufgetragen, so dass reliefartige Texturen entstehen, die durch die beinahe schon monochrome Farbauswahl besonders stark zur Geltung kommen. Eine haptische Qualität, ein Spiel mit Licht und Schatten, eine dramatische Dynamisierung und zugleich eine substanzielle Bodenständigkeit und Stofflichkeit sind diesen Bildern eigen. „der pastos aufgetragene farbbrei ist das malerische äquivalent zum unaufhörlich bewegten magma des bildraumes[15] beschreibt Arnulf Rohsmann, und ich komme nicht umhin, mich in seiner Wortwahl erneut an Urzustände eines Universums – oder in diesem Fall eines Planeten – erinnert zu fühlen. Neben dem starken Materialbezug weisen die Werke durch die helle Farbpalette zugleich auch etwas Atmosphärisches auf. „Seine abgetönten und gemischten Farben erscheinen immer wieder wie hinter einem atmosphärischen Dunst, in dem sich die zarten Kontraste (…) als ein scheinbar nicht endenwollender flutender Prozess uns darbieten[16]. Wie durch einen Nebel klärt sich in dieser Schaffensphase immer mehr der Blick auf das „Universum Taupe“. Der Farbauftrag wird weniger pastos, die Strukturierung der Leinwand nimmt ab, die Farbigkeit dafür zu. Um die Mitte der 1990er Jahre hat Johann Julian Taupe zu jener Bildsprache gefunden, der er bis heute im Großen und Ganzen treu geblieben ist.

Dies bedeutet aber keineswegs, dass es im Schaffen Taupes damit zu einem Stillstand gekommen wäre. Der Maler, der Mensch, die Menschheit, das Leben, die Welt und das Universum – oder kurz: alles – ist einem ständigen Wandel unterworfen, und daher sind es Taupes Bilder auch. Es sind große oder kleine Veränderungen, die abrupt passieren können, oder über einen langen Zeitraum kaum merklich von statten gehen, kurz- oder langlebige Änderungen, manche mit weitreichenden, andere mit kaum wahrnehmbaren Konsequenzen.

Dieser ständige Wandel, der im Mikrokosmos wie im Makrokosmos, individuell wie kollektiv von statten geht, manifestiert sich auch in Taupes Schaffen – beispielsweise in der stetig wechselnden Formatgröße oder phasenweise einer gewissen (wenn auch nicht ausschließlichen) Konzentration auf bestimmte „Hauptfarben“.

 

Als erste dieser Hauptfarben kann man über ein ganzes Jahrzehnt (die Neunziger-Jahre) ein tiefes Blau (evtl. Abb.12) ausmachen, das durch seine Intensität und Tiefe fasziniert und nicht nur bei Pia Jardí Assoziationen mit einem „Firmament voller Sterne [17] evoziert.

 

Anfang der 2000er Jahre verschob sich der Schwerpunkt zu einem kräftigen Rot (Abb.13), das die Formkonstellationen in anderen, leuchtenden Farben wie Magma umgab.

Seit 2009 setzt sich Taupe intensiv mit der „Farbe“ Weiß auseinander. Es war kein langsamer, vorsichtiger Einzug, den das Weiß in Taupes Bildwelt gehalten hat, sondern ein abrupter und überwältigender. Das Weiß hatte sich mit einem Schlag der Bildfläche bemächtigt, nur hie und da lugte eine andere Farbe hervor, doch den Hauptteil nahm Weiß ein – wenn auch beim genauen Hinschauen in verschieden nuancierten Flächen voneinander abgesetzt. Je länger Weiß die Hauptfarbe in Taupes Bildern darstellte, desto mehr Platz war mit der Zeit auch wieder für andere Farben – nach dem Extrem kommt der Mittelweg.

Wieder scheint es, als habe der doch so „bunte“ Johann Julian Taupe seine eigenen Regeln gebrochen.

Wie der Künstler mir erklärte, war dies eine bewusste Entscheidung, die nicht zuletzt auch aus seiner Zuwendung zur Zeichnung 2008/2009 resultierte. Beim Zeichnen auf großformatigen Papierbögen war es Taupe schlicht und einfach nicht möglich, das gesamte Blatt mit Farbe zu füllen, was er schließlich als reizvoll empfand. Die graphischen Arbeiten zeichnen sich durch eine Luftigkeit aus, durch eine kleinteilige Feinheit und durch eine natürliche Dominanz der frei stehen gelassenen Fläche des Trägermaterials – der Weißheit des Papiers. Dies führte Taupe zur Entscheidung, der Farbe Weiß auch in seinen Gemälden mehr Raum (Fläche) zu bieten und dadurch, wie er selbst sagt, „mehr Ruhe in die Bilder zu bringen“.

Mit keiner anderen Farbe wird so sehr „Stille“ und „Ruhe“ assoziiert wie mit Weiß – Begriffe, die interessanterweise aus dem akustischen und nicht aus dem visuellen Bereich stammen. Es sei hierzu die Beschreibung des „Farbenhörers“ Kandisky zitiert:
Bei der näheren Bezeichnung ist das Weiß (…) wie ein Symbol einer Welt, wo alle Farben, als materielle Eigenschaften und Substanzen, verschwunden sind. Die Welt ist so hoch über uns, dass wir keinen Klang von dort hören können. Es kommt ein großes Schweigen von dort (…). Deswegen wirkt auch das Weiß auf unsere Psyche als ein großes Schweigen, welches für uns absolut ist. (…) Es ist ein Schweigen, welches nicht tot ist, sondern voller Möglichkeiten. Das Weiß klingt wie ein Schweigen, welches plötzlich verstanden werden kann.[18]

Kaum eine andere Farbe hat in den Künsten, in der Geschichte, in verschiedenen Kulturen, in ihrer Wirkung und ihrem Symbolgehalt eine derart herausragende, ambivalente und vielschichtige Bedeutung.[19] Gerade diese Tatsache ist es wohl, die Taupes plötzliche Konzentration auf Weiß so schlüssig und zugleich so widersprüchlich – und somit typisch für sein Schaffen – scheinen lässt.

 

Dass Weiß so völlig entgegengesetzte Wirkungen und Bedeutungen haben kann, liegt in seiner Eigenschaft, einmal als Abwesenheit aller Farben, als Mangel an jeglichem Leben, ein andermal aber als Summe aller Farben, als Fülle des Lebens zu erscheinen[20] bringt es Gisbert Kranz auf den Punkt.

Johann Julian Taupes Bildwelt und das Weiß liegen also so nahe zusammen, dass man für beide die gleichen Aussagen treffen könnte: Beide vereinen größte Gegensätze in sich. Sie sind somit allumfassend. Sie können gleichermaßen verstörend wie beruhigend oder erfreulich wirken. Beide sind abgeschlossen und doch unendlich. Sie haben eine innere Logik und eine natürliche Selbstverständlichkeit.

 

Bei einem so rasanten Wechsel zu einer so symbolträchtigen Farbe wie Weiß kommt man nicht umhin, nach Deutungen dieses Umbruchs zu suchen. Und wieder erweisen sich die Interpretationsmöglichkeiten und Fragestellungen als mannigfaltig:

Ist Taupe nun bei den „weißen Flecken“ seiner Landkarte angekommen? Ist es das unbefleckte Weiß noch unentdeckter Gebiete? Oder ist es Deckweiß, mit dem Unerwünschtes, Verdrängtes übermalt wird, in der Hoffnung, in Vergessenheit zu geraten? Ist es ein „weißes Rauschen“, das in Taupes Universum (wie in der Mathematik) „Störungen in einem sonst idealen Modell“[21] darstellt?

Taupe erklärte mir, dass unter dem Weiß das Bunt verborgen liegt, die „Ursuppe“ der Grundierung genauso wie Schichten von Farben. Und dass im Weiß (bzw. in weißem Licht) selbst ja auch das ganze Farbenspektrum enthalten sei. Ist Weiß also die Quintessenz von Taupes Schaffen? „Alles“ gebündelt in einer einzigen Farbe?

 

[1]  Thomas Zaunschirm, Kaleidoskop des Vergessens. Auf der Suche nach Johann Julian Taupe, in: Thomas Zaunschirm (Hg.), Johann Julian Taupe. Zwischen den Formaten, Klagenfurt 1997, S. 7.

[2]  Ibid., S. 14.

[3]  Gabriele Boesch, Notwendige Bilder. Zu den Werken von Johann Julian Taupe, in: Zaunschirm (Hg.) 1997, S. 41.

[4]  zitiert nach: Gabriele Boesch, Notwendige Bilder. Zu den Werken von Johann Julian Taupe, in: Zaunschirm 1997, S. 41.

[5]  Hans Bischoffshausen, Zur Demystifizierung der „Kunst“, in: Bischoffshausen und die Kultur, 3, 1965, S. 59.

[6]  Fritz Riemann, Grundformen der Angst, München 1961/2009, S. 17.

[7]  Ibid.

[8]  Pia Jardí, Über Julian Taupe, in: Johann Julian Taupe. Von Bild zu Bild, Klagenfurt 1999, S. 7.

[9]  nach Arthur Koestler ist ein Holon ein Ganzes, das Teil eines anderen Ganzen ist. Quelle: Wikipedia (17.12.2013), URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Holon

[10] Christine Grundnig, Johann Julian Taupe. Frühe Werke und späte Bilder – eine Entwicklungsgeschichte, in: Christine Grundnig (Hg.), Johann Julian Taupe. Farbzonen – Bildwelten, Klagenfurt 2002, S. 27.

[11] zitiert nach Helmut Herbst, Capriccio Veneziano, in: Grundnig 2002, S. 59.

[12] Gabriele Eder in: Johann Julian Taupe. Pariser Ziegel, Klagenfurt 2011, S. 7.

[13]    Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang ein Zitat von Ulli Sturm, Jurorin des Volksbank Kunstpreis 2014, die über Taupes Malereien sagt: „Es ist abstrakte Kunst, die aber letztens [sic!] nicht als abstrakt empfunden wird.“ Quelle: ORF Kärnten (17.12.2013), URL: http://kaernten.orf.at/news/stories/2615965/

Kategorisierungen wie „abstrakt“ und „konkret“ scheinen für Taupes Schaffen also keine relevanten Begriffe zu sein.

[14] Grundnig 2002, S. 17.

[15] Arnulf Rohsmann, Johann Julian Taupe – Neue Bilder 1986-88, Klagenfurt 1989, S.4 (Kat. Kärntner Landesgalerie, Klagenfurt).

[16] Wilfried Skreiner: Mythische Zeichen in Farbathmosphäre. In: Die Brücke, 2 /1988, 14. Jg., S. 43.

[17] Pia Jardí, Über Julian Taupe, in: Johann Julian Taupe. Von Bild zu Bild, Klagenfurt 1999, S. 8.

[18]   Wassily Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, Bern und Bümplitz 1963, S. 95f.

[19] Eine umfassende Aufarbeitung der genannten Aspekte findet sich bei: Barbara Oettl, Weiß in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Studien zur Kulturgeschichte einer Farbe, Regensburg 2008.

[20] Gisbert Kranz, Farbiger Abglanz. Eine Symbolik, Nürnberg 1957, S. 81.

[21] Definition von „Weißem Rauschen“: „Weißes Rauschen wird in den Ingenieur- und Naturwissenschaften häufig verwendet, um Störungen in einem sonst idealen Modell abzubilden (…)“, Wikipedia (17.12.2013), URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Weißes_Rauschen